Eine Süd-Nord Passage des Bosporus aus der Sicht eines Lotsen

Tanker in Fahrt auf dem Bosporus in Istanbul.
Tanker in Fahrt auf dem Bosporus in Istanbul. © Julian Nitzsche

Sieben Kurswechsel bei Bosporus-Passage notwendig

Die beiden türkischen Meerengen Bosporus (ca 32 km lang, 700 bis 3000
M breit, 30 bis 100 m tief) und Dardanellen (65 km lang, 1,3 bis 7 km breit und bis zu 100 m tief), die mit dem zwischen ihnen liegenden Marmarameer die Kontinente Europa und Asien trennen, zählen zu den meistbefahrenen Wasserstraßen der Welt. Sie sind in Mythologie, Geschichte und auch in die Weltpolitik eingegangen. Geomorphologisch handelt es sich bei ihnen um ehemalige Flusstäler, die durch den nach der letzten Eiszeit gestiegenen Meeresspiegel „ertrunken“ sind.
Aus dem Schwarzen Meer fließt ein kräftiger Oberstrom durch den Bosporus in das Marmarameer und von dort etwas abgeschwächt durch die Dardanellen in die Ägäis und damit in das Mittelmeer. In entgegengesetzter Richtung fließt durch beide Meerengen in etwa 40m Tiefe ein schwächerer Unterstrom, bedingt sind beide Ströme durch die Tatsache, dass der Wasserspiegel des Schwarzen Meeres um einen Meter höher liegt als die südlich von ihm gelegenen Meere. Im Schwarzen Meer übersteigt der Wasserzufluss der in ihm einmündenden Flüsse, darunter der Donau, den Verdunstungskoeffizienten des Meerwassers und führt zu einem Wasserüberschuss von rund 300 Kubikkilometer jährlich.

Dieses überschüssige Wasser gelangt durch die Meerengen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von drei bis acht Knoten über die Ägäis in das Mittelmeer, dessen Wasser-Salzgehalt etwa doppelt so hoch ist wie jener des Schwarzen Meeres und damit auch eine höhere Dichte aufweist.
Die Schiffspassage des Bosporus – ob Handelsschiffe, Öltanker oder Personenschiffe – erfolgt in den meisten Fällen in Form von Konvois. Ein auf der Wasserstraße eingesetzter Lotse schilderte dem Autor anlässlich eines Wien-Besuches eine Passage der Meeresstraße von Süden nach Norden, also aus dem Marmarameer in das Schwarze Meer.
Vor dem auf dem asiatischen Ufer gelegenen Vorort Kadiköy (dem antiken Chalkedon) nähert sich „unserem“ Schiff ein Motorboot, ihm entsteigt der Lotse, erklettert das Schiff, wird auf dem Hauptdeck von der Schiffsbesatzung begrüßt, um dann seine Aufgabe auf der Kommandobrücke – Kapitän und Steuermann neben ihm – aufzunehmen. Auch wenn Kapitäne durchaus in der Lage wären, ihre Schiffe allein durch die Wasserstraße zu steuern, bestehen Versicherungsgesellschaften auf der Anwesenheit von Lotsen während der Bosporus-Passage. Die türkische Regierung verlangt außerdem ein eskortierendes Schleppboot auf Backbord voraus, damit bei einem Ausfall von Maschinen oder dem Steuerruder rasche Manöver möglich sind.
Die Schiffe warten vor dem Südeingang des Bosporus im Angesicht der südlichen Stadtteile Istanbuls auf das Signal VIRA („Anker lichten“ – das Gegenteil wäre FUNDA, also „Vor Anker gehen“). Beide Kommandos gehen auf die Venezianer und Genuesen zurück, die jahrhundertelang in den Gewässern um Konstantinopel operiert hatten.

Erste Aufgabe des Lotsen bei einer Süd-Nord-Passage des Bosporus ist den Angaben des Lotsen zufolge eine scharfe Beobachtung des Fährverkehrs zwischen den Istanbuler Anlegestellen Eminönü bzw. Karaköy auf dem europäischen und Üsküdar und Kadiköy auf dem asiatischen Ufer, der trotz der Existenz von nunmehr drei stark befahrenen Bosporusbrücken nichts an Intensität eingebüßt hat.
Auf Bildschirmen scheint elektronisch der aktuelle Kursverlauf des Schiffes auf, etwaige erforderliche Kursänderungen werden vom Navigator mit den im Logbuch eingetragenen Linien verglichen, um dann, wie ehedem, auf einer Seekarte eingetragen zu werden. Zwei hüfthohe Magnetkompasse auf jeder Seite der Kommandobrücke stehen bereit für den Fall, dass der elektronisch gesteuerte Kompass ausfallen sollte. Die elektronisch aufgezeichnete Kurslinie liefert ausreichende Informationen über Wassertiefen, Strömungsrichtungen und –geschwindigkeiten und erforderliche Kursverläufe voraus, aber auch über die Position anderer Schiffe. Besonders Ausflugs- und Vergnügungsboote verkehren oft überraschend und oft lange unbemerkt auf dem Bosporus – sie tauchen, wie der Lotse schilderte, „wie Gänse oder Enten auf dem Wasser auf“.

Personenfähren, die den Bosporus entlang fahren oder queren, mögen eigene Berufslotsen haben, eine echte Gefahr für die Schifffahrt auf der Wasserstraße stellen Fischerboote dar. Denn diese starten oft noch bei Dunkelheit von ihren Anlegestellen in Richtung Mitte der fischreichen Wasserstraße, um ihre Fänge zu machen. Am wenigsten beliebt sind bei Fischern passierende Riesentanker wegen ihres Maschinenlärms.
Fast wichtiger als der Blick auf elektronische Indikatoren, Radarschirme, Kompass und Tiefenanzeiger usw. ist für den Lotsen der Blick in die Fahrtrichtung, auf Höhe und Bewegungsrichtung der Wellen und auf kleinere Schiffe und Boote, die weit mehr als größere Schiffe den Strömungen und vorherrschenden Winden ausgesetzt sind. Bei jeder Passage des Bosporus muss man daher dem Lotsen zufolge den für das Schiff erforderlichen Kursverlauf „erfühlen“ und ihn nicht schon vor Fahrtantritt auf Karten oder Bildschirmen festlegen. Dabei tauchen Fragen auf wie „Trifft man auf Fähren, die Probleme bereiten?“ oder „Wie wirkt sich ein Wechsel der Windrichtung auf das Schiff und seinen Kurs aus?“.
Besonders Yachten und Segelboote, deren Kapitäne einen „Geschwindigkeitsrausch“ haben, muss man mit oft mehrfach wiederholten Signaltönen aufmerksam machen, dass man freie Fahrt benötige. Übrigens bringt jeder Lotse für die jeweilige Passage ein Verzeichnis mit, das ‚Aufschluss über augenblickliche Strömungen und Windgeschwindigkeiten gibt, verlässt sich aber hauptsächlich auf seinen Instinkt und seine Erfahrung, erst dann auf Berichte von Berufskollegen, die die Wasserstraße in der Gegenrichtung passiert haben, zuletzt auf schriftliche Unterlagen.
Gleich nördlich von Kadiköy passieren nach Norden unterwegs befindliche Schiffe den sogenannten Jungfrauenturm, oft auch Leanderturm genannt. Er erinnert an die griechische Sage von Leander, der zu seiner Geliebten Hero schwamm, obwohl die Sage ihn auf die Dardanellen verlegt.
Der erste Kurswechsel – 55 Grad nach Steuerbord – erfolgt etwas nördlich der Einmündung des Goldenen Horns (türk. Halic), das auf europäischer Seite die Istanbuler Stadtteile Stambul (das ehemalige Konstantinopel) und Beyoglu trennt. Der zweite Wechsel ist dann auf der Höhe des am asiatischen Ufer gelegenen Stadtteils Cengelköy mit 30 Grad nach Backbord fällig. Cengelköy liegt wenige Kilometer nach der ersten, 1973 eröffneten Bosporusbrücke, die nach Kemal Atatürk, dem Gründer und ersten Präsidenten der türkischen Republik (gest. 1938) benannt ist. Hat man dann Belek auf dem europäischen Ufer passiert, gelangt man an eine Stelle, wo der Bosporus mit über 100 m (162 ft) seine größte Tiefe aufweist. Hier erreicht sein von Norden nach Süden fließender Oberstrom auch die größte Geschwindigkeit mit etwa acht Knoten.
Wo der dritte bzw. vierte Kurswechsel erforderlich ist – zwischen Kandili (asiat. Ufer) und Asiyan (europ. Ufer) nahe der unmittelbar nördlich der Festung Rumeli Hisari gelegenen, die 1988 eröffnete und nach Sultan Mehmet II. Fatih (reg. 1451-81), dem Eroberer Konstantinopels (1453), benannten zweiten Bosporus-Brücke, ist die schmalste Stelle des Bosporus – 698 m (2230 ft).
Hier ist ein kompliziertes Doppelmanöver erforderlich: zunächst 45 Grad nach Steuerbord und danach fast die gleiche Gradzahl nach Backbord. Beträgt die Wendegeschwindigkeit mehr als 25 Grad pro Minute, kann das Auswirkungen auf die Stabilität des Schiffes haben. Jeder Kurswechsel eines Schiffes muss daher in Form glatter, wohl berechneter Schritte voraus kalkuliert werden.
Bei Kanlica Point folgt der fünfte Kurswechsel zurück nach Steuerbord, dann folgt bei Yeniköy der sechste, schärfste Kurswechsel mit 80 Grad nach Backbord, dem bald darauf die Rückkehr nach Steuerbord (siebenter Wechsel) nahe den Untiefen von Umur am asiatischen Ufer gegenüber der kleinen Bucht von Tarabaya folgt. Hierher verlegt die griechische Argonautensage die sogenannte Symplegaden, zwei nicht in der Erde verwurzelte Berghügel, die immer wieder zusammenstoßen und zwischen sich Schiffe, darunter auch der sagenhaften „Argo“ nur ganz kurze Zeit zum passieren ließen.
Dann taucht Backbord voraus das von den Byzantinern einst Kledai tou Pontu (Schlüssel zum Pontus, d.i. das Schwarze Meer) genannte Kap am europäischen Ufer auf, die Wasserstraße wird allmählich breiter und man gelangt auf das Schwarze Meer hinaus. Kurz vorher hat man noch die inzwischen fertiggestellte dritte Bosporusbrücke passiert, die nach Sultan Selim II. Yavuz (reg. 1512-20) benannt ist. Hier ist dann die Arbeit des Lotsen zu Ende, er begibt sich auf ein Motorboot an Land, um auf den nächsten Einsatz auf einem Schiff zu warten. Das von ihm nach erfolgter Passage verlassene Schiff kann nun ohne Schwierigkeiten den Kurs auf seinen Bestimmungshafen des Schwarzen Meeres aufnehmen.

Beitragsfoto: Julian Nitzsche / Wikipedia

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Harald Krachler
Gastautor bei VEUS-Shipping.com.